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Ein Philologe, ein Musiker, ein Theologe und noch ein Mathematiker

Rezension des Buches: E. Gabowitsch:" Die Geschichte auf dem Prüfstand"

St.-Peterburg, Verlagshaus "Neva", 472S., 2005
ISBN: 5-7654-4398-2
erschienen in russischer Sprache (Originaltitel: История под знаком вопроса)

Das Buch beginnt mit einem Vorwort der beiden großen russischen Chronologiekritiker Nossovski und Fomenko. Dieses Vorwort ist aber eine einzige Enttäuschung. In zwei Sätzen schreiben sie, dass sie das Buch gut finden, aber nicht mit allem einverstanden sind. Weiterhin kritisieren sie den teilweise übertrieben lächerlichen Ton des Buches. Da stimme ich mit ihnen voll überein: Auch mir sagt diese teilweise sogar ins Vulgäre abdriftende Beschreibung mancher Aspekte überhaupt nicht zu. Zum Glück ist nicht das ganze Buch so geschrieben. Im Rest des Vorwortes geben die beiden den Lebenslauf von Eugen Gabowitsch wieder. Da steht nichts drin, was der Autor nicht selbst in Kapitel 1 dann auch noch erzählt. Also, von Nossovski und Fomenko hätte ich etwas Besseres erwartet.

Der Einleitung ist noch eine Minieinleitung vorgeschaltet. Hier führt der Autor aus, dass seine Darlegungen in diesem Buch noch von wesentlich größerer Tragweite sind als das eine Buch von S. Rushdie, mit dem dieser sich den Zorn gewisser religiöser Führer zugezogen hatte. Gabowitsch will nach eigener Aussage die Weltreligion an sich, nämlich die Geschichte der Menschheit, in Frage stellen. Er liebt es zu polemisieren, das geht in der Einleitung los und zieht sich durch das ganze Buch. In der eigentlichen Einleitung erklärt was er mit dem Buch bezweckt. Im historischen Teil will er der Frage nachgehen, wie Geschichte entstanden ist. Die zweite Hälfte des Buches widmet er der Chronologie.

Für wen hat er das Buch geschrieben? Es ist natürlich für den russischen Markt gedacht. Gabowitsch will alle ansprechen, die Fomenko gelesen haben und sich fragen: „Ist Fomenko allein?“. Ist er natürlich nicht, antwortet Gabowitsch und gibt in seinem Buch einen aus meiner Sicht seht guten Überblick über den aktuellen Zustand der Geschichtskritik in Westeuropa, speziell im deutschsprachigen Bereich. Der russische Leser ist zu beneiden, kein Buch in deutscher Sprache erfüllt diese Funktion. Gabowitsch will aber auch an die professionellen Historiker heran, um sie, wie er sagt, zum Nachdenken zu bringen.

Das erste Kapitel ist autobiographisch aufgebaut. Gabowitsch will beschreiben, wie er zur Geschichtskritik fand, aber eigentlich beschreibt er seinen Lebensweg in der Sowjetunion, der ihn, im Nachgang betrachtet, auf die Geschichtskritik vorbereitet hat. Am Schluss des Kapitels folgt eine Auflistung aller Publikationen von Gabowitsch zur Geschichtskritik, aus der hervorgeht, dass das vorliegende Buch seine erste größere Arbeit zu diesem Thema ist.

Kapitel 2 enthält mehrere Ausflüge in die schöngeistige Literatur. An Hand zweier englischer, eines russischen und eines italienischen Buches weist er darauf hin, wie Geschichte manipuliert werden kann. Die vier Autoren schreiben natürlich Romane und sagen das auch. Aber was wäre, wenn sie letzteres nicht täten. Am meisten beeindruckt hat mich das Beispiel von Umberto Ecos Buch: „Baudolino“, da ich es selbst erst einige Monate zuvor gelesen hatte und genau die gleichen Gedanken wie Gabowitsch hatte: So wurde Geschichte gemacht im Mittelalter! So könnte es gewesen sein.

Mit Kapitel 3 beginnt das eigentliche Buch, das ab hier aus zwei Teilen besteht. Wie in der Einleitung angekündigt, wird im ersten Teil die Geschichte vom Standpunkt der Geschichtskritik und im zweiten die Chronologie betrachtet. Wie es sich für einen Wissenschaftler gehört, beginnt Gabowitsch mit Begriffsdefinitionen. Es geht damit los, was denn nun eigentlich Geschichte ist. Im Gegensatz zur traditionellen Geschichtsschreibung ist Gabowitsch der Meinung, dass Geschichte erst seit relativ kurzer Zeit existiert. Seine Hypothese der Entstehung der Geschichte (Chronologie) basiert auf dem, wie er schreibt, in der westlichen Geschichtskritik weit verbreiteten katastrophistischen Modell der Vergangenheit. Zwei interessante Aussagen stecken im letzten Satz. Wie so viele seiner westlichen Kollegen ist Gabowitsch Katastrophist. Weiterhin bezeichnet er sein Modell der Vergangenheit als Hypothese, er vertritt also keinen Anspruch auf Richtigkeit. Bevor seine Hypothese geliefert wird, folgen noch Begriffsbestimmungen, damit wir auch wissen, worüber wir reden. Geschichte ist nach Gabowitsch das, was wir über die Vergangenheit wissen und nicht die geschichtliche Vergangenheit selbst. Geschichte ist ein Modell der Vergangenheit. Und wenn dem so ist, dann ist auch nicht verwunderlich, dass es eine Mannigfaltigkeit verschiedener Geschichtsmodelle gibt. Die Vergangenheit ist der Generator der geschichtlichen Information, die Geschichte selbst ist die Art der Verarbeitung dieser Information. Er betrachtet in diesem Zusammenhang noch den Begriff der Historiographie (Geschichtsschreibung). Geschichtsschreibung ist für ihn einerseits die Vielzahl des über die Vergangenheit Geschriebenen, das sich nicht gegenseitig zitiert, sondern nur auf eigenen Beobachtungen, auf von anderen gehörtem oder auf der Phantasie der Autoren basiert. Im weiten Sinne ist es alles, was jemals über die Vergangenheit verfasst wurde, einschließlich historischer Romane, Fälschungen und erfundenen Geschichten. Geschichtsschreibung ist somit ein Analog zur Literatur.

Gabowitsch geht der Frage der Entstehung der Geschichtsschreibung nach, der die traditionelle historische Schule zuwenig Aufmerksamkeit widmet. Die historische Idee selbst in primitiver Form ist eine solche nichttriviale und unikale Sache, dass die unabhängige Entstehung in verschiedenen Teilen der Welt extrem unwahrscheinlich ist und streng nachgewiesen werden müsste.

Seiner Meinung nach gab es eine gewaltige Erschütterung der Zivilisation, die dazu führte, dass die Menschheit begann, die Geschichte aufzuzeichnen.

„Die Geschichte als Beschreibung (Modell) der Vergangenheit beginnt mit einer Katastrophe. Nicht mit der Erinnerung an weit entfernte Vorfahren, nicht mit deren Kulten, nicht mit der mündlichen Wiedergabe von Legenden und Mythen, sondern mit der letzten großen Katastrophe, die wie Marx (PAF) behauptet, in der Mitte des 14. Jahrhunderts im Wesentlichen in Europa stattgefunden hat. Die traditionelle Geschichte kennt diese Katastrophe nicht, sondern nur eine ihrer Erscheinungsformen unter der Bezeichnung „schwarzer Tod“. Dafür ist ihr aber die tiefe Krise bekannt, die in der Mitte des 14. Jahrhunderts einen Großteil Europas erfasste.“

Für Gabowitsch ist diese letzte Katastrophe ein extremer Einschnitt in die Menschheitsentwicklung, wenn nicht gar der eigentliche Startpunkt der Zivilisation, wie wir sie heute kennen. Er weist aber auch darauf hin, dass in der russischen Geschichtskritik eine eventuelle Katastrophe bisher überhaupt keine Rolle spielt, was ich nur bestätigen kann. Auch ich selbst bin noch nicht von einer großmaßstäblichen Katastrophe zum genannten Zeitpunkt überzeugt. Warum soll die Geschichtsschreibung nicht im Rahmen der Weiterentwicklung der Zivilisation entstanden sein?
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Nach Gabowitsch ist die Katastrophe, die eine extreme Reduzierung der Bevölkerung zur Folge hatte, verantwortlich für den Beginn verschiedener Arten von Aufzeichnungen: Grundbücher, Geburts-, Heirats- und Sterberegister, Aufzeichnungen über Handwerkskunst. All das wurde durch die Katastrophe, die in der Geschichtskritik als LGR (Letzter Großer Ruck) bezeichnet wird, ausgelöst, da, wie Gabowitsch ausführt, die mündlichen Überlieferungen auf Grund des Massensterbens nicht mehr möglich waren.

Weiterhin führt er aus, dass das die Entstehung der Genres der historischen Erzählungen und Romane auch auf die nach dem LGR vorherrschende Situation zurückzuführen ist. Neben den „wahren“ Beschreibungen der durchlebten Katastrophe und dem schönen Leben davor, begann man, sich solche Geschichten auszudenken und aufzuschreiben bzw. aufschreiben zu lassen. Nach Gabowitsch entwickelte sich dies zu einem einträglichen Geschäft, mit dem viel Geld zu verdienen zu war. Er weist darauf hin, dass diese Erklärung völlig ohne psychoanalytische Konstruktionen zur Verdrängung der durchlebten Katastrophe, wie sie bei Velikovsky zu finden sind und von Marx propagiert werden, auskommt!

Auf die Frage, ab wann denn wiedergegebene Geschichte den tatsächlichen Ereignissen entspricht, erläutert er, dass die verschiedenen Geschichtskritiker dazu Zahlen zwischen denen Jahren 1000 und 1648 angeben. Für ihn ist 1648 (Westfälischer Friede) der früheste belastbare Zeitpunkt, obwohl in den Jahrhunderten danach fleißig weiter gefälscht wurde.

In Kapitel 4 werden Fälschungen besprochen, die Spitze des Eisberges, d.h. die entdeckten Fälschungen, wie sich Gabowitsch ausdrückt. Wir erfahren viel über archäologische Funde in Palästina, über Briefe historischer Persönlichkeiten, die nie existiert haben, über gefälschte antike chinesische Handschriften in England und über die Begutachtung historischer Urkunden durch Faussner mit den bekannten vernichtenden Ergebnissen. Der Hexenverfolgung widmet Gabowitsch viel Raum, er kommt zu dem Schluss, dass sowohl Ziele als auch Zeit der Hexenverfolgung von vielen heute immer noch völlig falsch dargestellt werden. Seiner Meinung nach wurde dies erst im 19. und 20. Jahrhundert in das dunkle Mittelalter verschoben. Für ihn ist das „Umbringen der weisen Frauen“ eine direkte Folge des LGR und es steht für Gabowitsch alles in engem Zusammenhang mit der Frage, ob sich das Christentum nach 1500 nur neu orientiert hat (Luther) oder ob es gerade erst entstanden ist. Aber den gesamten Komplex möchte er in einem neuen Buch noch ausführlicher behandeln. Dort, meine ich, könnte er auch mal der Frage nachgehen, ob es in Russland auch Hexenverfolgungen gab (ich habe zumindest noch nichts darüber gehört) und wenn nicht, warum.

Geschichte war nie nur reine Wissenschaft (für den Buchautor ist sie sowieso nie eine Wissenschaft gewesen), sondern immer Bedienung von Interessen im Dienste der Politik. Durch die Änderung der politischen Interessen entsteht eine Mannigfaltigkeit der Geschichte, da immer wieder neue Modelle ein und derselben Vergangenheit erzeugt werden, ein Fakt, dem nach Gabowitsch heute viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. In Kapitel 5 werden Beispiele aus der Vergangenheit betrachtet, die demonstrieren, wie man Geschichte für eigene Zwecke einsetzt.

Geschichtsumschreibungen im 20. Jahrhundert im Geiste des Nationalismus werden in Kapitel 6 beschrieben. Es sind Beispiele aus den Ländern des sozialistischen Lagers, aus dem Nahen Osten und aus Afrika, für jeden nachvollziehbar, es handelt sich schließlich um unsere Gegenwart.

Ein Geschichtsbild, bestehend aus Einschätzungen und Wertungen wird zur Ideologie und hört auf, Wissenschaft zu sein.

Im 17. Jahrhundert hatte eine Reihe der großen Denker eine sehr negative Einstellung zur Geschichte. Es gibt schon Menschen (wie der französische Jesuit Jean Hardouin), die vermuten, dass die gesamte Frühgeschichte im Mittelalter erdacht worden ist. Auch Gabowitsch vertritt diese Meinung und bringt eine Reihe Bespiele am Beginn des Kapitels 7 , wo er auch darauf hinweist, dass der Prozess der Christianisierung völlig falsch dargestellt wird. Dann entwickelt Gabowitsch seine Vorstellungen vom Beginn der monotheistischen Religion. Man merkt, dass er sich sehr an Topper orientiert, Einzelaspekte aber anders einschätzt und in den Gesamtkontext einordnet.

Für ihn hat sich das frühe Christentum im Bereich von Norditalien, Südfrankreich, Nordspanien und Süddeutschland entwickelt. Dies ging einher mit einer Weiterentwicklung der Gesellschaft, die bestehenden Gemeinden begaben sich auf gleichberechtigter Grundlage aller Mitglieder auf eine höhere Organisationsstufe u.a. mit der Schaffung einer Gerichtsbarkeit (Die ersten Bischöfe waren die frei gewählten Richter.) und dem Bau von Unterschlupf- bzw. Versammlungsräumen. Letztere sind genau wie bei Topper die Urform der heutigen Kirchen und waren eigentlich Verteidigungsbauten. Da sie in vorchristlicher Zeit entstanden sind, enthalten sie heidnische Kunst, die uns heutzutage weitgehend unverständlich erscheint, meint Gabowitsch in Übereinstimmung mit Topper.

Nach Voigt betrachtet auch Gabowitsch die ersten etwa zur selben Zeit entstandenen Kloster als Militäranlagen, die bei der Kolonialisierung des Landes zum Schutz der Kolonisten erbaut wurden. Die Parallele zu den Forts in Amerika ergibt sich zwangsläufig, auch wenn die geschichtliche Kulisse damals eine ganz andere war.

Von unten begann langsam der Prozess der Zentralisierung der Kirchen, die Macht der Gemeinden wurde zurückgedrängt. Nach Gabowitsch sind die Juden die Masse der den Zentralisierungsbemühungen sich nicht unterordnen wollenden lokalen Bischöfe und Kloster, um die dann später in der uns als Reformation bekannten Zeit der Kampf entbrennt. Mit der Vereinigung verschiedener Bischofssitze und der dabei entstehenden Hierarchie entwickelt sich die Staatskirche, in die sich die meisten Juden ergeben. Die nicht bekehrbaren bleiben als Altgläubige in ihrer eigenen Religion. Gabowitsch führt zur Unterstützung seiner Sicht der Dinge eine Reihe Indizien an. So ist das Christentum im 15. Jahrhundert in Nordeuropa und im nördlichen Teil von Mitteleuropa völlig unbekannt. In Polen wurden noch im 17. Jahrhundert die katholischen Kirchen von Juden geführt, in Nordspanien und Südfrankreich wurden die Kirchen von Juden gebaut. Und ist nicht der spätlutherische Antisemitismus auf den verlorenen Kampf um die Juden zurückzuführen?

Im weiteren Teil des Kapitels betrachtet Gabowitsch eine Reihe nationaler Epen, die angeblich die Vorgeschichte der jeweiligen Völker beschreiben. An mehreren Beispielen erläutert er die aufgedeckten Fälschungen, die meisten wurden erst im 18. Jahrhundert verfasst, für Gabowitsch auch völlig logisch, denn das war die Zeit der Ausformung der Nationalstaaten, die dann natürlich auch eine eigene Geschichte brauchten. Am Schluss bringt er noch einmal eine Liste, wann diese Werke erstmalig gedruckt wurden, alles zwischen 1757 und 1872. Wie Pfister ist auch Gabowitsch der Meinung, dass das reale Erstellungsdatum vieler „sehr alter“ Werke in Wirklichkeit nahe am Erscheinungsdatum der ersten Druckfassung zu suchen ist.

Mit Kapitel 8 beginnt der chronologische Teil des Buches. Viele angestammte Historiker sehen die Rolle der Chronologie eher zweitrangig, für sie ist sie eine Hilfsdisziplin. Nach Gabowitsch gibt es keine Geschichte ohne Chronologie, nur letztere trennt die Beschreibung der Vergangenheit von Märchen über diese. Wie auch zu Beginn des Teils über die Geschichte führt Gabowitsch hier eine Reihe von Begriffsdefinitionen an. Historische Chronologie ist die Kunst des Andockens von Ereignissen an die Zeitachse. Nach Ideler ist eine technische Chronologie das Grundgerüst der historischen, aber bereinigt um die Ausschmückungen, die zur Lesbarkeit eingeführt werden. Dann übertreibt Gabowitsch aber, indem er das Interesse zur Chronologie in der Länge der entsprechenden Einträge darüber in den Enzyklopädien verschiedener Zeitepochen misst.

Eng verbunden mit der Chronologie sind natürlich Kalender und Ären. Deren große Anzahl ist eine Basis für Verwechslungen, wenn man nicht mit angibt, auf welche Ära man sich bezieht. Wie wichtig die Kalender in der Anfangszeit der Chronologie waren, kann man daran ablesen, dass mehr als die Hälfte von Scaligers erstem Buch Kalendern gewidmet war.

Aus der Analyse des julianischen Kalenders zieht Gabowitsch die Schlussfolgerung, dass dies ein Sonnenkalender war, der sich erst kurz vor der gregorianischen Kalenderreform etablierte. Das gesamte römische Imperium wurde erst danach erdacht. Der gregorianische Kalender, der eine Korrektur von nur wenigen Tagen beinhaltete, war extrem schwierig einzuführen, letztendlich hat er sich erst im 20. Jahrhundert komplett durchgesetzt. Daran wird für Gabowitsch deutlich, dass die Geschichte des julianischen Kalenders erfunden ist. Für die Einführung des gregorianischen Kalenders hat Gabowitsch eine für mich sehr fragliche Hypothese zur Hand: Diese Kalenderreform war notwendig und wurde durchgeführt, nachdem sich die Erdbewegung um die Sonne nach dem LGR stabilisiert hatte.

Beda Venerabilis ist eine interessante aber wahrscheinlich nicht historische Persönlichkeit (Topper), die wohl von Petavius erfunden wurde. Mit seinem Namen sind viele frühe chronologische Aktivitäten verbunden.

Dann schlägt der Mathematiker in Gabowitsch zu: Er bringt mathematische Überlegungen zur Anordnung historischer Ereignisse aus unterschiedlichen Quellen. Diese demonstriert er an Hand verschiedener grafischer Beispiele, die aus irgendeinem Grund 20 Seiten vorher angeordnet sind (auch andere Abbildungen tauchen nicht an den Stellen auf, an denen sie im Text besprochen werden). Er zeigt, welche Probleme entstehen, wenn man mehrere relative Chroniken in Einklang zu bringen versucht. Das kann kein Historiker, dafür braucht man wirklich einen Mathematiker. Die Mathematiker sind die besseren Chronologen. Am Beispiel von Spielkarten demonstriert Gabowitsch, was man beim Sortieren so alles beachten muss. Er kommt zu dem Schluss, dass es im Prinzip unmöglich ist, eine widerspruchsfreie Chronologie zu erstellen.

Das komplette Kapitel 9 befasst sich mit einem der ersten Bücher über Geschichte und Chronologie, der Chronik von Hartmann Schedel. Das Buch ist ein unschätzbarer Fundus für die Geschichtsforschung, da es eindeutig vor Scaliger verfasst. Gabowitsch analysiert die verschiedenen im Buch dargestellten Ären. Von besonderem Wert sind dabei die vielen Grafiken. So ist Jerusalem mit typischen russischen Kirchen dargestellt, das mittelalterlich aussehende Rom enthält keinerlei christliche Zeichen, in verschiedenen Städten (z.B. Bern, Mailand) tragen die Kirchen keine Kreuze sondern Halbmonde, Regensburg ist mit seiner berühmten Donaubrücke, aber ohne Kreuze dargestellt, in Nürnberg (der Heimatstadt des Herausgebers) gibt es nur einige wenige davon.

Gabowitsch schlussfolgert aus der Analyse des Textes, dass eine Chronik in der Epoche, in der dieses Werk entstanden ist, eine andere Bedeutung hatte. Nach heutigen Maßstäben wäre es eine Enzyklopädie. Sie nimmt keinen Bezug zu realen Ereignissen, betrachtet aber immerhin schon einen vorwärtsgerichteten Zeitstrahl. Entwicklung und Bedeutung der Städte haben einen herausgehobenen Platz in ihr. Es erfolgt keine Unterscheidung zwischen Legenden und Mythen einerseits sowie realen Ereignissen andererseits, alles ist vermengt. Die dargestellte weit entwickelten (Kriegs-) Technik und Architektur sowie die Qualität der Ausgabe würde eher zu einem Erscheinungsdatum im 17. Jahrhundert passen. Damit liegt Gabowitsch rd. 200 Jahre über der traditionellen Geschichtsschreibung.

Divinator ist ein aus der Mode gekommenes Wort, das ich auch nicht kannte und nur in einem französischen Wörterbuch fand. Es bezeichnet einen Hellseher aber auch Erdenker oder Erschaffer. Gabowitsch charakterisiert mit diesem Wort einen Herrn namens Scaliger und widmet ihm das gesamte Kapitel 10 .

Josef Justus Scaliger (1540 – 1609) hat die heute noch geläufige Chronologie der Weltgeschichte im Wesentlichen durch die Kraft der Eingebung (Gabowitsch!) erschaffen. Scaliger schrieb 1583 (?), angeblich als Antwort auf die Kalenderreform von 1582, das bei Zeitgenossen auf großes Unverständnis stoßende Werk: „Korrektur der Chronologie“. Aus verschiedenen Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts erzählt Gabowitsch die Lebensgeschichte des im Alter von 22 Jahren zur evangelischen Kirche übergetretenen Divinators. Obwohl das genannte Buch heute noch die Grundlage der Weltchronologie bildet, wurde das in Latein verfasste Werk in keine moderne Sprache übersetzt. Scaliger ist auch bei professionellen Historikern weitgehend unbekannt. Da brauche ich mich ja nicht zu wundern. Beim Lesen der Werke von Fomenko stieß ich auch immer auf die rundweg abzulehnende Chronologie von Scaliger und wusste nicht, worüber Fomenko schrieb. Ich habe diesen Umstand meinen fehlenden Geschichtskenntnissen zugeschrieben. Dank Gabowitsch ist jetzt vieles klarer.

Gabowitsch kann es nicht lassen und polemisiert absatzweise über die nicht vorhandenen Übersetzungen und die dafür Verantwortlichen. Aktives Verschweigen ist der einzige Umgang mit Scaliger, auch in einem Geschichtsbuch für russische Hochschulen, das Gabowitsch vorliegt. Ob das ein repräsentatives Buch ist, kann ich natürlich nicht beurteilen

Scaliger hat eine heute noch Bestand habende Chronologie der Weltgeschichte verfasst, in der er an vielen Stellen seine eigene Unkenntnis durch divinatorische Tricks überdeckt hat. In der einzigen russischen Quelle, die dem Autor bekannt ist, in welcher das Leben von Scaliger und seine Tätigkeit ausführlich geschildert wird, werden genau diese divinatorischen Fähigkeiten gelobt, ohne die wir heute keine vollständige Chronologie vorliegen hätten.

Heutige Maßstäbe sind auf die Denk- und Arbeitsweise des Philologen Scaliger überhaupt nicht anwendbar. In heute kaum vorstellbarer Weise hat Scaliger fehlende Angaben hinzugedichtet und ausgeschmückt. Viele Sachen hat er aus dem Nichts erschaffen, u.a. auch unter Mithilfe getreuer Freunde wie z.B. Casaubon, der für ihn alte Chronologien in der Pariser Bibliothek „gefunden“ hat. Gabowitsch weist darauf hin, dass man prinzipiell Scaliger überprüfen könnte, aber keiner tut es!!

Eine weitere richtunggebende Persönlichkeit bei der Erstellung der Weltchronologie war der berühmte französische Theologe Petavius, der die Chronologie von Scaliger weiterentwickelt und verbessert hat. Er machte sie auch für die katholischen Länder annehmbar. Aber es gibt noch einen dritten: Calvisius, der (auch in der geschichtskritischen Szene) fast vergessen ist. Diesen beiden großen Chronologen ist Kapitel 11 des Buchs gewidmet. Übrigens möchte Gabowitsch Historiker, die alle drei kennen, am liebsten als seltene Exemplare auf dem Jahrmarkt ausstellen (Das war es jetzt aber zum Thema Polemik!).

Der Komponist Calvisius (1556-1615) war Kirchenkantor in Leipzig (somit ein Vorgänger von J. S. Bach) und gibt 1605 sein Buch „Opus chronologicum“ heraus. Damit macht er Scaliger auf sich aufmerksam, der dann an der deutlich erweiterten zweiten Auflage mitwirkt. Die in diesem Buch aufgelisteten Tabellen sind denen, die heute durch die traditionelle historische Schule verwendet werden, sehr ähnlich. Scaliger und Calvisius arbeiteten im Tandem, sie ergänzten sich gut. Eigentlich machten sie nichts anderes, als die vorher zusammengetragene Informationen mit allen darin vorhandenen Fehlern in ein System zu gießen. Der Grundfehler ist dabei, dass sie versuchten, alle aufgezeichneten Ereignisse auf eine absolute Zeitachse zu bringen. Dass dies nur teilweise möglich ist, hat der Mathematiker Gabowitsch ja schon in Kapitel 8 gezeigt. Hinzu kommt, dass beide das vorhandene Material völlig unkritisch übernahmen.

Das Erscheinungsdatum der erwähnten zwei Bücher von Scaliger und Calvisius wird von Gabowitsch (mit Hinweis auf Pfister) in Frage gestellt. Sie können kaum vor 1630 (nach Pfisters neuen Erkenntnissen sogar erst kurz nach 1700) erschienen sein. Eigentlich ist das letzte Kapitel Calvisius und noch mehr Petavius gewidmet, aber Gabowitsch beschäftigt sich auch hier auch ausführlich mit der Kritik an Scaliger und seinen Nachfolgern. Dafür wird nirgends erklärt, warum sich der Komponist Calvisius überhaupt mit Chronologie beschäftigt hat. Das wäre doch mal interessant. Gabowitsch weist noch darauf hin, dass auch die geschichtskritische Szene uneins über die Rollenverteilung zwischen Scaliger und Calvisius ist.

Der dritte Stern im chronologischen Dreigestirn (Pfister) ist der heute wenig bekannte französische Jesuit und Herausgeber griechischer Autoren Petavius. Nachdem er angeblich 1616 ein Buch über die Patriarchen von Konstantinopel verfasst hat, bekommt er Kontakt zum Vatikan und erhält den Auftrag, sich mit frühen christlichen Autoren zu befassen. Sehr passend hat Gabowitsch hier ein paar Hintergrundinformationen über die Praktiken der Jesuiten eingeflochten. Zur Durchsetzung ihrer Ziele ist es u.a. erlaubt, Mittel wie Lüge, Betrug und Meineid einzusetzen. Der seit 1618 als Professor am Jesuitenkolleg in Paris arbeitende Petavius beginnt seine chronologische Karriere mit massiven Angriffen auf Scaliger und dessen Ablehnung der gregorianischen Kalenderreform. Später nimmt er an Scaligers Tabellen Korrekturen vor und macht sie dadurch annehmbar für seine katholischen Zeitgenossen. Die Anwendung der schon in Ansätzen vorhandenen Zählung von Daten ab Christi Geburt wurde durch Petavius forciert. Ein Umstand, von dem heutige Historiker keine Ahnung mehr haben, wie Gabowitsch an Hand eines russischen Geschichtslehrbuchs erläutert, gefolgt von einer massiven Kritik am Zustand der russischen historischen Schule insgesamt.

Petavius wird zum führenden Chronologen, er ist der erste, der ein Geschichtslehrbuch für Studenten herausgibt. Auch ist anmerkenswert, dass er als erster eine Chronologie aller römischen Herrscher bis einschließlich der Vertreter des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation aufstellte.

Gabowitsch’ Exkurs in die Anfänge der Entstehung der Chronologie hat mich so beeindruckt, dass ich eine Menge hier davon nacherzählt habe, da ja die Sprachbarriere viele potentielle Leser davon abhält, es selbst zu lesen.

Gabowitsch weist im Weiteren darauf hin, dass fast alle chronologischen Tabellen von Petavius ohne Diskussion oder Begründung publiziert wurden. Ein Fakt, der natürlich ihre Glaubwürdigkeit stark einschränkt.

Wie verschiedene geschichtskritische Autoren (im Westen nur Pfister, in Russland eine ganze Reihe (das sind Morosow und die nicht im Buch genannten Werjowkin, Schabinski und Kaljuschnyj sowie Schumach) herausgearbeitet haben, wurden in den erstellten chronologischen Tabellen bei fehlender Information numerologische Prinzipien und Zahlensymmetrien eingesetzt, um die fehlenden Zeitangaben zu erhalten. Alle drei waren im Prinzip nur Sammler und Systematisierer vorhandenen Materials, das ohne kritische Quellendiskussion übernommen wurde. Sie führten eine Kanonisierung der Chronologie durch. Der Einfluss ihrer Arbeitsweise auf die heutige Geschichtsszene ist überdeutlich und am besten mit den Worten „Glauben ist alles“ zu beschreiben.

Der größte Fehler der offiziellen Wissenschaft besteht nicht in der durch sie erstellten Chronologie, sondern, wie Gabowitsch ausführt, in der unkritischen Art, wie über sie geredet wird, dabei völlig außer Acht lassend, dass dieselbe sich auf sehr bescheidene und teilweise hanebüchene Beweise stützt.

Eines der Hauptziele des Buchs war es, genau dieses darzustellen. Aus meiner Sicht ist das vollauf gelungen.

Im Schlusswort folgt noch der Ausblick auf (mindestens) zwei weitere Bücher aus der Feder von Gabowitsch. Eines soll der Kritik der asiatischen Geschichte gewidmet sein, mit der sich Gabowitsch intensiv auseinandergesetzt hat. Aber zuerst folgt eine Fortsetzung des vorliegenden Buches, in der sich der Autor u.a. tiefer mit der Katastrophentheorie beschäftigen will.

Fazit: Ein lesenswertes Buch, das durch die Fülle an Informationen glänzt, als Einführung in die Geschichtskritik unbedingt zu empfehlen. Leider können die meisten, die diese Rezension gerade lesen, von dieser Empfehlung keinen Gebrauch machen, aber vielleicht findet sich doch ein Verlag, der dieses Buch vollständig ins Deutsche überträgt und herausgibt. Die Übersetzung des Kapitels über Scaliger kann auf der WebSite www.jesus1053.com im Bereich „Eigenverlag“ unter den Arbeiten von E. Gabowitsch gelesen werden.
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otherland | Mar 20, 2008 |

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